Monique Truong ist 1968 in Saigon geboren, im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern aus Vietnam geflohen und kam in die USA, wo sie gar nicht sofort, später aber umso intensiver erleben musste, dass sie anders, dass sie nicht „weiß“ war. Sie studierte an der Yale University und an der Columbia University Jura und arbeitete in einer angesehenen New Yorker Anwaltskanzlei, bevor sie sich entschloss, als freie Schriftstellerin zu leben - gelegentlich arbeitet sie allerdings immer noch als Urheberrechtsanwältin. Gleich ihr erster Roman „Das Buch vom Salz“ (2004 bei C.H.Beck auf Deutsch erschienen) erzählt von Menschen mit mehrfacher sprachlich-kultureller Prägung, vom Kochen und Essen, von Literatur und Kunst, vom Reisen und von der Gewalt der Geschichte: Themen, die Monique Truong, eine der besten amerikanischen Schriftstellerinnen ihrer Generation, seither immer wieder beschäftigt haben. Das Essen ist eine der elementaren Notwendigkeiten und zugleich unendlich variabel und es kann raffiniert sein wie ein Werk der Kunst. Monique Truong nutzt Geschmacksempfindungen und Essen wie eine Sprache, die alle verstehen, man kann es auch den Titeln ihrer beiden anderen Romane ablesen: „Bitter im Mund“ und „Sweetest Fruits“, ihr aktueller Roman. Er handelt von Lafcadio Hearn (1850-1904), einem schillernden, kulturellen und literarischen Gestaltwandler, dessen kurzes, abenteuerliches Leben zwischen den Ländern, Kulturen und Sprachen auch ein Leben mit mehreren Frauen war. Drei von ihnen, eigentlich vier, darunter seine Mutter, erzählen mit ihren ganz eigenen Stimmen ebenso sehr über Hearns Leben und Werk wie über sich selbst, und so werden sie überhaupt erst für alle hörbar. Eine Auswahl von Hearns wichtigsten Reportagen hat Monique Truong 2017 in der Reihe textura herausgegeben.

1. Was haben Sie im Studium fürs Leben gelernt?
Während des Jurastudiums habe ich gelernt, dass „rechtmäßig“ und „gerecht“ – wie in „Gerechtigkeit“ – nicht dasselbe bedeuten. Genauso wenig meinen „rechtmäßig“ und „ethisch“ dasselbe. Sklaverei war einst rechtmäßig in den USA. Frauen das Stimmrecht zu verweigern ebenfalls. Legalität und Illegalität sind Konstrukte unserer Gesellschaft und deshalb keineswegs idiotensicher oder unanfechtbar.


2. Womit haben Sie Ihr erstes Geld verdient?
Als ich sechzehn war, habe ich an den Wochenenden als Verkäuferin in einem Kleiderladen in einer Shopping Mall in Houston, Texas gearbeitet. Dort habe ich gelernt, ein bisschen zu flunkern. Wenn Menschen Kleidung kaufen möchten, sind sie oft verletzlich, geben sich preis. In Wirklichkeit suchen sie häufig nach etwas Immateriellem. Sie halten nicht nach einem Kleid Ausschau, sondern nach dem Gefühl, das sie sich davon erhoffen. Ich lernte die Bedürfnisse der Kundinnen einzuschätzen. Ich lernte, ihre Mimik und Körpersprache zu deuten, während sie vor dem Ganzkörperspiegel standen. Der Laden war auf geschickte (oder arglistige) Weise so konzipiert, dass die Kundinnen die Umkleidekabinen verlassen mussten, um sich selbst im Spiegel mustern zu können. Ja, in diesem Kleid sehen Sie sogar noch schlanker aus, als Sie sowieso schon sind. Oh ja, in diesem Kleid sehen Sie so locker und entspannt aus, als wären Sie schon im Urlaub. Übrigens, ich trage das auch! Und so weiter. Rückblickend war das eine gute Übung für meine anschließenden Karrieren, erst als Anwältin und dann in der Literatur.


3.Wie sieht ein gelungener Tag in Ihrem Leben aus?
Ein gelungener Tag beginnt mit einem leeren Kalender: keine Termine, keine Treffen, keine Verabredungen irgendwelcher Art.


4. Was nehmen Sie sich immer wieder vor?
Ich reise gerne – obwohl ich gar nicht der Prototyp des idealen Reisenden bin! Ich habe keinerlei Orientierungssinn, verirre mich also ständig. Weil ich nicht Auto oder Fahrrad fahren kann, bin ich von Flugzeugen, Zügen und Bussen abhängig. Ich habe große Angst, den Flug, Zug oder Bus zu verpassen. Abgesehen von der englischen Sprache kann ich nur ein bisschen Französisch – sozusagen „Restaurant-Französisch“ – und Vietnamesisch auf dem Niveau einer Sechsjährigen. Ich habe einen Hang zur Faulheit und liebe es, ganze Tage im Schlafanzug, geborgen in meinen eigenen vier Wänden, zu verbringen. Nichtsdestotrotz – wenn ich die Wahl und die Möglichkeit habe zu reisen, dann entscheide ich mich immer dafür. Denn auf Reisen fühle ich mich meinem verstorbenen Vater am nächsten. Ich vermisse seine Lebensfreude, seine Unerschrockenheit und seine Fähigkeit, voranzukommen, allen Widerständen zum Trotz. Dann erinnere ich mich daran, dass ich von ihm abstamme und vielleicht sogar manche dieser Stärken geerbt haben könnte. Ich versuche ständig, mir zu beweisen, dass das wirklich so ist.


5. Was ertragen Sie nur mit Humor?
Die Trump-Regierung.


6. Ein großes "Beinahe" in Ihrem Leben?
Als ich Mitte der Achtzigerjahre auf der High School war, wollte ich insgeheim eine Nachrichtensprecherin wie Connie Chung werden, eine der ganz wenigen asiatisch-amerikanischen Frauen im landesweiten Fernsehen. Vielleicht war sie zu der Zeit sogar die einzige? Ich habe große Stärke und Freude daraus gezogen, sie in dieser Position zu sehen, diese Autorität, mit der sie die Abendnachrichten verkündete, voller Selbstvertrauen und Würde. Als der Tag meines Abschlusses näher rückte, hatte mich bis dato nur eine einzige, mittelständische Universität mit einem Studienprogramm für Fernsehjournalismus akzeptiert. Ich dachte mir, dieser einzige Zulassungsbescheid muss Schicksal sein: Die Universität will, dass ich in Connies Fußstapfen trete! Dann traf ein Zulassungsbescheid von Yale ein und meine Eltern fanden, dass dieser Brief Schicksal und ein unglaubliches Glück sei (und möglicherweise auch ein Versehen seitens Yale, wenn es ihrer Zuflucht suchenden Tochter im Gegensatz zu so vielen anderen Universitäten den Zugang gewährte). Als ich dann nach Yale kam, wollte keiner dort Connie Chung sein! Die anderen Studierenden fanden, sie sei mehr „sprechender Kopf“ als „denkender Kopf“. Ich behielt mein Geheimnis für mich und sprach fast nie mehr von Connie. Wenn ich sie jemals treffen würde, würde ich ihr nur den ersten Teil der Geschichte erzählen. Ich würde ihr sagen, wie sehr es mich bestärkt hat, sie abends im Fernsehen zu sehen. Etwas, von dem mir gar nicht bewusst war, dass ich es brauchte. Die Zeiten haben sich geändert und jetzt gibt es viele asiatisch-amerikanische Fernsehreporterinnen und Nachrichtensprecherinnen. Sie sind in Connies Fußstapfen getreten. Ein Teil von mir wünscht immer noch, ich hätte das auch getan.


7. Der beste Ort der Welt, der beste Ort in New York?
Die Haltestelle an der 14th Street der A/C/E-U-Bahn-Linien ist geschmückt mit Tom Otterness‘ skurrilen Bronze-Skulpturen von Tieren und Menschen. Eine meiner liebsten: Zwei Männer mit Geldbeuteln als Köpfe und ein Alligator, der aus einem Kanalschacht kriecht, um einen von ihnen in die Kanalisation zu schleifen. Das gesamte Werk heißt Life Underground und ist 2001 installiert worden. Manche dieser Bronzen, vor allem die, die in die Holzbänke eingelassen worden sind, werden täglich von den Pendlern berührt und auf die Dauer blankpoliert, wenn sie die Köpfe oder Bäuche tätscheln. Für einen Moment vergessen sie, dass sie womöglich zu spät zur Arbeit kommen, oder wünschen sich, woanders zu sein. Dort gibt es außerdem Bronzen hoch oben an den Überwasserleitungen und in Nischen unter der Decke. Jedes Mal, wenn ich an der Haltestelle bin, sehe ich wieder neue Skulpturen. Das NYC-U-Bahn-System mit all seinen Macken, den Verspätungen, dem Schmutz, dem Chaos von Gerüchen und Menschen ist nicht der Darm, sondern das Herz der Stadt! Kunst sollte genau dort zu finden sein! An der Haltestelle 14th Street ist Kunst allgegenwärtig und nicht auf Abstand, nicht durch eine Scheibe oder eine Absperrung aus Samt von uns getrennt. An dieser Haltestelle vermittelt die Kunst Humor, Sozialkritik und sogar ein bisschen Freude.


8. Welche Künstler beeindrucken Sie?
Yayoi Kusama ist eine Überlebende. Sie ist zugleich Visionärin und Pragmatikerin. 1977 hat sie sich selbst in eine psychiatrische Klinik in Tokyo eingewiesen. Dort lebt sie noch immer und arbeitet in einem nahegelegenen Atelier. Das ist die mutigste und – ehrlich gesagt – brillanteste Lebensentscheidung, die ein lebender Künstler, eine lebende Künstlerin je treffen konnte. Sie hat sich ihren psychischen Problemen direkt gestellt, sie hat, was sie zu kontrollieren vermochte, unter Kontrolle gebracht, sich ihre Autonomie nach Möglichkeit bewahrt und ihre Kunst in den Vordergrund gestellt.


9. Welche Eigenschaften schätzen Sie an einem Menschen am meisten?
Freundlichkeit und einen Sinn für Humor, in dieser Reihenfolge. Diese beiden Eigenschaften gehen normalerweise nicht miteinander einher. Humor, der darauf beruht, jemanden – oder gar dich selbst – zu entwürdigen oder herabzusetzen, ist kein Humor. Sondern einfach nur Grausamkeit.


10. Ihr liebstes Smalltalk-Thema?
Essen. Jeder kennt sich damit aus. Keiner ist Anfänger.


11. Welcher Illusion geben Sie sich gerne hin?
Ich habe mich dafür entschieden, keine Kinder zu bekommen. Manchmal scherze ich, dass meine Bücher meine Kinder sind. Manchmal bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das ein Scherz ist. Meine Romane können mir keine Muttertagsgrüße schicken oder mich an Weihnachten zu sich einladen, aber sie tragen meinen Namen. Sie teilen der Zukunft mit, worüber ich mir während bestimmter Abschnitte meines Lebens Gedanken gemacht habe. Sie erinnern jene, die sie sehen, daran, dass es mich gegeben hat. Natürlich setzt das voraus, dass meine Romane auch zukünftig noch gelesen werden. Ich schätze, das ist die Illusion, der ich mich am meisten hingebe.


12. Welche Zeitungen, Magazine und Blogs lesen Sie?
Ich habe die New York Times und die Washington Post abonniert. Außerdem beziehe ich meine Informationen aus der NewsHour (das ist ein nächtliches Nachrichtenformat im öffentlich-rechtlichen Rundfunkdienst) und vom National Public Radio. Seit dem November 2016 schreie ich die Zeitung, den Bildschirm und das Radio öfter mal an. Ich hoffe sehr, dass diese Verhaltensstörung im November 2020 wieder endet.


13. Ihre Lieblingsbuchhandlung?
Brooklyn hat eine blühende Landschaft unabhängiger Buchhandlungen, etwa Books Are Magic, Greenlight, Word, Archestratus Books, the Center for Fiction Bookstore, nur um ein paar zu nennen. Mein absoluter Liebling ist aber ein kleiner Ein-Raum-Laden (man kann ihn sich eher wie einen geräumigen, begehbaren Kleiderschrank vorstellen), der lizzyyoung bookseller heißt (lizzyyoungbookseller.com). Die Schwerpunkte liegen auf Ernährungsgeschichte, Kulturgeschichte, Medizin, Gesundheit, Frauen, Handschriften und Ephemera. Der Laden liegt in einem Wohnblock voller Sandsteinhäuser in Gehweite von meiner Wohnung. Ich versuche jeden Monat mindestens einmal vorbeizuschauen, um in ihren Vintage-Kochbüchern zu stöbern. Normalerweise komme ich mit mindestens einem Buch und dem Wunsch, sie alle mitzunehmen, wieder heraus.


14. Ihr Lieblingsmuseum?
Das Noguchi Museum ist ein Juwel, das sich der Kunst des japanisch-amerikanischen Künstlers Isamu Noguchi widmet. Es liegt in Queens und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Das Museum ist luftig und hell, der ummauerte Garten eine Oase der Ruhe für Noguchis Außenraumskulpturen. Noguchis Vater war der japanische Vielschreiber und Dichter Yone Noguchi und seine Mutter die amerikanische Schriftstellerin und Herausgeberin Léonie Gilmour. Als ich begann, über Lafcadio Hearn zu recherchieren, war ich überrascht, dass eines von Yone Noguchis Büchern Lafcadio Hearn in Japan (1910) heißt. Es beruht auf Treffen und Interviews mit Hearns Ehefrau Koizumi Setsu in den Jahren direkt nach Hearns Tod.


15. Welchen Satz haben Sie sich zuletzt aus einem Buch notiert?
Die belgische Schriftstellerin Marguerite Yourcenar hat Ich zähmte die Wölfin: Die Erinnerungen Hadrians (1974) geschrieben, ein meisterhafter historischer Roman – auch wenn sie einwenden würde, dass alle Romane historisch sind – aus der Ich-Perspektive des Kaisers Hadrian. Ich besitze eine Ausgabe der englischen Übersetzung, die einen Essay oder eher eine Reihe an Notizen Yourcenars enthält, die einen großartigen Einblick in ihren kreativen Prozess gewähren. Daraus zitiere ich oft. Es ist auch eine unschätzbare Quelle, um Einblick in den Schreibprozess im Allgemeinen zu gewinnen: 
„Es gibt Bücher, an die man sich erst heranwagen darf, wenn man die Vierzig überschritten hat. Versucht man es früher, könnte man leicht daran scheitern, dass man die großen, natürlichen Grenzen verkennt, die von Mensch zu Mensch, von Land zu Land und von Jahrhundert zu Jahrhundert die Menschheit in ihrer unendlichen Vielfalt trennen; oder, im Gegenteil, man könnte bloßen bürokratischen und technischen Hindernissen zu viel Bedeutung beimessen, den Zollhäusern oder den Grenzkontrollposten, die zwischen den Menschen errichtet worden sind. Ich habe Jahre gebraucht, um genau zu verstehen, wie ich den Abstand zwischen dem Kaiser und mir genau ermitteln konnte.“ Marguerite Yourcenar, „Reflexionen zur Form von Die Erinnerungen Hadrians“


16. Welches Buch würde niemand in Ihrer Bibliothek erwarten?
Als ich elf oder zwölf Jahre alt war, habe ich Der Hobbit von J.R.R. Tolkien gelesen, danach Der Herr der Ringe. Neben seinen zahlreichen gefeierten, literarischen Begabungen hat Tolkien auch sehr einnehmend über Essen und Nahrung geschrieben. Ich erinnere mich noch daran, wie stark mich die Beschreibungen seines üblichen zweiten Frühstücks in Bilbos Welt und seine Lebenseinstellung hineingezogen haben. Ich folgte ihm auf seiner epischen Reise in der Hoffnung, dass dieser kleine Hobbit sicher in sein behagliches Zuhause und zu seinen herzhaften Mahlzeiten zurückkehren würde.


17. Ein Buch, das Ihr Leben verändert hat?
Da ich in den USA aufgewachsen bin, war ich daran gewöhnt, mich nie in Literatur repräsentiert zu sehen. Also lernte ich früh, mögliche Verbündete in den Büchern zu finden, die ich las. (Vergleiche zum Beispiel meine Antwort zu Frage 16.) In meinem zweiten Collegejahr las ich Toni Morrisons Roman Sehr Blaue Augen (1970) und erkannte nach ein paar Seiten das dem System immanente Vorurteil, mit dem ich aufgewachsen war, zuerst in North Carolina und dann in Ohio (wie Morrison) und Texas. Ein System, das „Weißsein“ priorisiert und hochgehalten und alle anderen abgewertet hatte. Durch Geschichtsbücher und Seminare hatte ich von Sklaverei und Rassismus in den USA erfahren, aber was Geschichtsbücher nicht gut vermitteln konnten, war die psychologische und emotionale Gewalt, die dieses System einem jungen, afroamerikanischem Mädchen wie Pecola in Lorain, Ohio (und einem jungen Mädchen wie Monique in Centerville, Ohio) zugefügt hat. Morrisons Roman hat mich die Macht der Fiktion – vor allem, wenn man sie zusammen mit der Geschichte, d.h. Historie denkt – gelehrt.

"Truong hat einen grandiosen, vielstimmigen Roman des Reisens und des Sich-Neuerfindens vorgelegt. Er überschreitet Grenzen um Grenzen und wird sich doch in Ihr Herz eingraben."
Anthony Marra, Autor von "Die niedrigen Himmel"