Thomas Piketty im Gespräch

"Das Kapital im 21. Jahrhundert" war ein außergewöhnlich ehrgeiziges Buch. Was hat Sie bewogen, so kurz danach ein noch umfangreicheres Buch zu schreiben?"

Seit der Veröffentlichung von "Das Kapital im 21. Jahrhundert" habe ich viel gelernt. Ich wurde in Länder eingeladen, über die ich wenig wusste, habe neue Forscher kennengelernt und an Hunderten von Diskussionen teilgenommen. "Das Kapital im 21. Jahrhundert" hatte, kurz gesagt, den sehr starken Abbau der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Ungleichheiten untersucht, die im 20. Jahrhundert die beiden Weltkriege nach sich gezogen hatte. Es hatte auch auf den beunruhigenden Anstieg von Ungleichheiten seit den 1980er Jahren hingewiesen. aber das Buch litt an zwei entscheidenden Unzulänglichkeiten. Zum einen war es ausgesprochen westzentriert. in diesem neuen Buch habe ich meine Perspektive erweitert. ich untersuche nicht nur die Geschichte der «dreigliedrigen Gesellschaften» (mit ihrer funktionalen Differenzierung in drei Klassen: Adel, Klerus, Arbeiter) und Eigentümergesellschaften, sondern auch Sklavenhaltergesellschaften, Kolonialreiche, den Kommunismus und den Postkommunismus, die Sozialdemokratie und das indische Kastensystem, die Ungleichheitsregime in Brasilien, China und Russland. Die fundamentale Frage nach den Ideologien, die Ungleichheiten untermauern, hat «Das Kapital im 21. Jahrhundert» nur gestreift. Und diese black box wollte ich öffnen.

Was ist die Grunderkenntnis, die sich aus der Untersuchung dieser Ideologien ergibt?

Ich erzähle die Geschichte ganz unterschiedlicher Ungleichheitsregime, und meine Schlussfolgerung lautet: Die herrschenden Ideologien sind stets sehr viel anfechtbarer und instabiler, als wir glauben. Ungleichheit ist eine politische Konstruktion, nicht Produkt «naturwüchsiger» wirtschaftlicher oder technologischer Kräfte. Jede Gesellschaft muss sich selbst eine glaubwürdige Geschichte erzählen, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Ungleichheiten annehmbar sind. Sie muss die Struktur der sozialen Beziehungen, der Eigentumsordnung, des Grenzregimes, des steuer- und Bildungssystems rechtfertigen. Der Blick zurück auf die Geschichte dieser Ideologien erlaubt es uns, eine andere Perspektive gegenüber den Ideologien der Gegenwart einzunehmen. Wir glauben oft, die Ungleichheiten der Vergangenheit seien zwangsläufig ungerecht und tyrannisch, die der Gegenwart dagegen ihrer Natur nach leistungsgerecht, dynamisch und offen. ich glaube dieser meritokratischen Verklärung kein Wort. Macrons «Seilführer», Trumps job creators, die Verherrlichung selbst des schwindelerregendsten Reichtums, all das ist Teil eines Diskurses, der nicht weniger auf Glaubensgrundsätzen beruht als traditionelle, ausdrücklich religiöse Rechtfertigungen von Ungleichheit.

Glaubt man Ihrer Darstellung, so ist Geschichte eine Folge von Ungleichheitsregimen. Dennoch sind Sie optimistisch. Warum?

Die Geschichte zeigt, dass es unmöglich ist, die Entwicklung von Ungleichheitsregimen vorherzusagen. Nehmen sie Schweden: Oft heißt es, das schwedische Sozialmodell zehre von einer uralten, bis auf die Wikinger zurückdatierenden Kultur. Tatsächlich war Schweden lange Zeit eine extrem inegalitäre Gesellschaft. Das bis 1911 geltende Zensuswahlrecht sorgte dafür, dass die Besitzer der größten Vermögen bis zu hundert Stimmen hatten. Es war die mobilisierende Kraft politischer Anstrengungen, die das Land verändert hat. Wenn sie 1910 behauptet hätten, Schweden werde dereinst ein sozialdemokratisches Land, wären sie verlacht worden. Darum glaube ich auch nicht, das derzeitige System sei unzerstörbar oder lasse sich nicht verändern.

Wenn die Ungleichheit seit den 1980er Jahren zugenommen hat, weshalb haben die politischen Parteien, anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, keine Anstrengungen unternommen, um sie zu abzubauen?

Die großen politischen Parteien haben sich seit den 1980er Jahren radikal verändert. In der sozialdemokratischen Ära, die auf den Zweiten Weltkrieg folgte, identifizierten sich die ärmsten Klassen mit den niedrigsten Bildungsabschlüssen mit den Linksparteien, mit den Demokraten, Labour, den Sozialisten, den Kommunisten oder Sozialdemokraten. aber im Zeitalter des Hyperkapitalismus war es nicht länger das Hauptanliegen der Parteien auf der linken Seite des parlamentarischen Spektrums, das Schicksal der Benachteiligten zu verbessern. statt dessen haben sie sich immer mehr um die Gewinner des Bildungswettbewerbs gekümmert. Aus linken Parteien und Bewegungen wurden Vertreter der Wähler mit hohen Bildungsabschlüssen. Wir haben es inzwischen mit politischen Systemen zu tun, die von zwei Eliten beherrscht werden. Da ist auf der einen Seite das, was ich die vermögende «kaufmännische Rechte» nenne – Republikaner, Tories, etc. Und da ist auf der anderen Seite die formal hochgebildete und meist wohlsituierte «brahmanische Linke», die von den Demokraten, von Labour, von den Sozialdemokraten repräsentiert wird. Die am wenigsten Begünstigen fühlen sich durch die parlamentarische Linke nicht mehr vertreten. Damit hat sich eine politische Marktlücke für Nativisten und andere opportunistische Politiker aufgetan, die um die Gunst dieser Wähler buhlen. aber das kann sich ändern, selbst in den Vereinigten staaten, da es den egalitaristischen Werten eines bedeutenden Teils ihrer Wählerschaft widerspricht, wenn die Demokraten sich ganz in den Dienst der Hochschulabsolventen stellen.

Sie beschließen Ihr Buch damit, für eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Reformen einzutreten, zu denen auch die Übernahme deutscher Modelle der Mitbestimmung in Unternehmen zählen.

Die wahre Herausforderung, vor der unsere Gesellschaften stehen, ist die der Macht. Das private Geld hat sich der wirtschaftlichen Macht und der Politik bemächtigt. ich skizziere in meinem Buch die Umrisse eines «partizipativen Sozialismus», der das genaue Gegenteil des extremen Staatssozialismus sowjetischen Typs mit seinen desaströsen Folgen ist. Mitbestimmung bei der Führung von Unternehmen eröffnet die Möglichkeit einer solchen Partizipation. Beschritten haben diesen Weg seit den 1950er Jahren nur Deutschland und die skandinavischen Länder, aber Labour in Großbritannien und die Demokraten in den USA haben inzwischen begonnen, über dieses Modell nachzudenken. in Deutschland halten Arbeitnehmer die Hälfte der Stimmrechte in den Verwaltungsräten großer Gesellschaften. In Schweden nur ein Drittel, dies aber auch in kleineren Unternehmen. Dieses System hat dafür gesorgt, dass die Vergütungsexzesse in den Führungsetagen nicht ganz so haltlos wie in anderen Ländern ausfielen und die Investitionen in Arbeitnehmer stärker waren. Ich schlage vor, durch Begrenzung der Stimmrechte von Großaktionären darüber hinauszugehen, so dass kleinere Aktionäre eine größere Rolle spielen und Koalitionen mit den Arbeitnehmern eingehen können.

Sie plädieren auch für eine Reform der Eigentumsteuer, um eine «allgemeine Kapitalausstattung» zu finanzieren. Worum geht es?

Derzeit erbt die Hälfte der Bevölkerung praktisch nichts. Stellen sie sich dagegen eine Art «Erbschaft für alle» vor. im Alter von 25 Jahren würde jeder eine Kapitalausstattung erhalten, sagen wir 120.000 Euro. Das entspricht in Frankreich 60 % des Durchschnittsvermögens. Die Summe könnte zum Beispiel genutzt werden, um sich eine Wohnung zu kaufen. Dadurch wäre die Gesellschaft nicht länger aufgeteilt in diejenigen, die Miete zahlen, oft über Generationen, und diejenigen, die, ebenfalls über Generationen, Wohnraum besitzen und Mieten kassieren. Und die Menschen würden ermutigt, ein Unternehmen zu gründen und Arbeitnehmer zu motivieren, Anteile zu erwerben. Finanzieren ließe sich das nicht allein durch das Aufkommen der Erbschaftsteuer, sondern auch durch eine progressive Steuer auf Nettovermögen. Diese neue Form einer progressiven Eigentumssteuer würde eine permanente Eigentumszirkulation zeitigen und den unbegrenzten Fortbestand sehr großer Vermögen verhindern.

Ein anderer Bereich, den Sie hervorheben, ist die Bildung.

Wenn wir nach Gründen für die Halbierung der Wachstumsrate seit den 1990ern suchen, sollten wir uns die unzulängliche Investition in Bildung ansehen. Wir haben es mit einer Stagnation der Bildungsausgaben in allen hochentwickelten Ländern zu tun, während zugleich die Zahl der Studierenden steil nach oben gegangen ist.

Denken sie, ihr Buch ist eine Blaupause für die Überwindung des Kapitalismus?

Wir können nicht die Abschaffung des Kapitalismus versprechen, ohne lange und hartnäckig darüber zu debattieren, was genau an seine Stelle treten soll. ich versuche zu dieser Debatte beizutragen.

In französischen Interviews haben sie gesagt, Sie zögen dieses Buch dem «Kapital im 21. Jahrhundert» vor. Warum?

Ich denke tatsächlich, dass ich Fortschritte gemacht habe und dieses Buch viel besser ist. Wenn sie bloß eines der beiden Bücher lesen möchten, lesen sie bitte das zweite.

Aus dem Englischen übersetzt von Stefan Lorenzer

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