Leseprobe "Wolkenkuckucksland" von Anthony Doerr

Die Argos Missionsjahr 65
Tag 307
in Gewölbe Eins

Konstance

Ein vierzehnjähriges Mädchen sitzt im Schneidersitz auf dem Boden eines kreisrunden Gewölbes. Wilde Locken liegen ihr wie ein Heiligenschein um den Kopf, die Strümpfe sind voller Löcher. Das ist Konstance. Hinter ihr, in einem durchsichtigen Zylinder, der fast fünf Meter hoch vom Boden bis zur Decke reicht, hängt eine Maschine, aus unzähligen Goldfäden bestehend, von denen keiner dicker als ein menschliches Haar ist. Jeder dieser Fäden windet sich in einer erstaunlich komplexen Verschlungenheit um Tausende andere. Gelegentlich pulsiert Licht in einem der Bündel: mal hier, mal da. Das ist Sybil.
Zusätzlich gibt es noch eine aufblasbare Liege, eine Recyclingtoilette, einen Essensdrucker, elf Säcke Nahrungspulver und ein multidirektionales Laufband in Form eines Autoreifens, Perambulator genannt. Aus einem Diodenring an der Decke fällt Licht. Ein Ausgang ist nicht zu erkennen.
Der Großteil des Bodens wird von fast hundert rechteckigen Zetteln bedeckt, die Konstance aus leeren Nahrungspulversäcken gerissen, zu einer Art Quadrat zusammengelegt und mit selbst gemachter Tinte beschrieben hat. Auf manchen drängen sich die Zeilen dicht an dicht, auf anderen steht nur ein einziges Wort. Eines enthält die vierundzwanzig Buchstaben des griechischen Alphabets. Auf einem anderen ist zu lesen:

In den tausend Jahren vor 1453 wurde Konstantinopel dreiundzwanzig Mal belagert, aber kein Heer vermochte je, die Mauern zu überwinden.
Konstance lehnt sich vor und nimmt drei Zettel aus dem Puzzle vor sich. Die Maschine hinter ihr flimmert.
Es ist spät, Konstance, und du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen.
«Ich habe keinen Hunger.»
Wie wäre es mit einem leckeren Risotto? Oder einem Lammbraten mit Stampfkartoffeln? Es gibt immer noch viele Kombinationen, die du nicht ausprobiert hast.
«Nein, danke, Sybil.» Sie betrachtet den ersten Zettel und liest:
Die verschollene griechische Prosaerzählung Wolkenkuckucksland des Schriftstellers Antonios Diogenes, die von der Reise eines Hirten in eine utopische Stadt am Himmel berichtet, geschrieben wahrscheinlich um das Ende des ersten Jahrhunderts v. u. Z.

Den zweiten:

Durch eine byzantinische Zusammenfassung des Buches aus dem neunten Jahrhundert wissen wir, dass es mit einem kurzen Prolog begann, in dem sich Diogenes an eine kränkelnde Nichte wandte und ihr erklärte, er habe die nachfolgende komische Geschichte nicht erfunden, sondern sei in einem Grab der alten Stadt Tyros darauf gestoßen.

Den dritten:

Auf dem Grab, schrieb Diogenes an seine Nichte, stand: Aethon – lebte 80 Jahre als Mensch, 1 Jahr als Esel, 1 Jahr als Zackenbarsch, 1 Jahr als Krähe. Im Grab, behauptete er, eine hölzerne Truhe gefunden zu haben, darauf die Aufschrift: Fremder, wer immer du bist, öffne dies und siehe, was dich erstaunen wird. In der Truhe selbst hätten vierundzwanzig Tafeln aus Zypressenholz mit Aethons Geschichte gelegen.

Konstance schließt die Augen, sieht, wie der Dichter in die Finsternis des Grabes hinabsteigt, sieht, wie er im Licht seiner Fackel diese seltsame Truhe untersucht. Die Dioden in der Decke verblassen langsam, die weißen Wände verfärben sich bernsteingelb, und Sybil sagt: Bald ist LightOut, Konstance.
Sie geht vorsichtig zwischen den Zetteln auf dem Boden hindurch und holt die Reste eines leeren Sacks unter ihrer Liege hervor. Mit    Zähnen und Fingern reißt sie ein rechteckiges Stück heraus, gibt einen kleinen Löffel Nahrungspulver in den Essensdrucker, drückt einige
Knöpfe, und der Drucker spuckt ein paar Gramm einer dunklen Flüssigkeit in seine Schüssel. Konstance nimmt einen aus einem Polyäthylenrohr herausgebrochenen behelfsmäßigen Stift, dessen Spitze sie zu einer Schreibfeder geschnitzt hat, taucht ihn in die behelfsmäßige Tinte, beugt sich über den leeren Zettel und zeichnet eine Wolke darauf. Sie taucht ihre Feder ein zweites Mal in die Tinte.
Über die Wolke zeichnet sie die Türme einer Stadt und deutet mit Punkten winzige Vögel an, die um die Türme herum aufsteigen. Der Raum wird immer dunkler. Sybil flimmert. Konstance, ich muss darauf bestehen, dass du etwas isst.
«Ich bin nicht hungrig, danke, Sybil.»
Sie nimmt einen Zettel, auf dem ein Datum steht, der 20. Februar 2020, und legt ihn neben einen anderen mit der Aufschrift Tafel A. Die Zeichnung der Wolkenstadt kommt links daneben. Einen Atemzug lang scheint es fast so, als stiegen die drei Zettel im verbleichenden Licht auf und begännen zu leuchten. Konstance hockt sich wieder auf ihre Fersen. Sie hat diesen Raum seit fast einem Jahr nicht verlassen.

EINS
Fremder, wer immer du bist,
öffne dies und siehe,
was dich erstaunen wird

Wolkenkuckucksland,
von Antonios Diogenes, Tafel A
Diogenes’ Kodex misst 30 x 22 cm. Von Würmern zerfressen und von Schimmel bedeckt, ließen sich nur vierundzwanzig Seiten, hier von A bis Ω gekennzeichnet, retten. Alle waren nur noch zu einem gewissen Grad zu entziffern. Die Handschrift ist ordentlich und neigt sich ein wenig nach links. Aus der Übersetzung durch Zeno Ninis aus dem Jahr 2020:

… wie lange schon hatten diese Tafeln in der Truhe vor sich hin gemodert und auf Augen gewartet, die sie lesen würden? Obwohl ich sicher bin, dass du die Wahrheit der absonderlichen Ereignisse in Zweifel ziehen wirst, von denen sie in meiner Übersetzung berichten, meine liebe Nichte, lasse ich auch nicht ein Wort aus. Vielleicht waren die Menschen, die in jenen fernen Zeiten auf der Erde lebten, tatsächlich Untiere, und eine Vogelstadt schwebte zwischen den Reichen von Menschen und Göttern. Vielleicht schuf sich der Schäfer auch, wie es alle Narren tun, seine eigene Wirklichkeit und entschied, dass sie wahr sei. Aber wenden wir uns seiner Geschichte zu und entscheiden für uns selbst, ob er bei Verstand war.

Die Stadtbibliothek von Lakeport
20. Februar 2020, 16:30 Uhr


Zeno

Er geht mit fünf Fünftklässlern durch den dicht fallenden und dahinwehenden Schnee aus der Schule hinüber in die Stadtbibliothek. Er ist über achtzig, trägt einen Drillichmantel, seine Stiefel haben Klettverschlüsse, und auf seiner Krawatte fahren Cartoon-Pinguine Schlittschuh. Den ganzen Tag schon ist er voller Freude, und jetzt, an diesem Donnerstagnachmittag im Februar um halb fünf, als er die Kinder vor sich den Gehweg hinunterlaufen sieht, Alex Hess mit seinem Eselskopf aus Papiermaschee, Rachel Wilson mit einer Plastikfackel und Natalia Hernandez, die einen tragbaren Lautsprecher mit sich führt, da drohen ihn seine Gefühle zu übermannen.
Sie kommen am Polizeirevier vorbei, am Kaufhaus Parks, den Eden’s-Gate-Immobilien. Die Stadtbibliothek von Lakeport ist ein zweistöckiges viktorianisches Knusperhaus mit hohem Giebel an der Ecke von Lake und Park Street. Sie wurde der Stadt nach dem Ersten Weltkrieg gestiftet, der Kamin neigt sich etwas zur Seite, die Regenrinnen hängen durch, und die Risse in dreien der vier Fenster nach vorne heraus werden von Paketband zusammengehalten. Auf den Wacholderbüschen entlang des Gehwegs und auf der Buchrückgabekiste an der Ecke, die so bemalt ist, dass sie wie eine Eule aussieht, liegt eine dicke Schneedecke.
Die Kinder rennen in Richtung Eingang, hinauf unter das Vordach und klatschen mit Sharif ab, dem Kinderbuch-Bibliothekar, der herausgekommen ist, um Zeno die Stufen hinaufzuhelfen. Sharif hat lindgrüne Stöpsel in den Ohren und bunten Glitter in den Haaren auf seinen Armen. Auf seinem T-Shirt steht: I LIKE BIG BOOKS AND I CANNOT LIE.
Zenos Brille ist beschlagen, und er muss sie sich drinnen erst einmal säubern. Ausgeschnittene Papierherzen kleben auf der Empfangstheke, und auf einer gerahmten Stickerei an der Wand dahinter steht: Hier beantworten wir eure Fragen.
Auf den drei Monitoren auf dem Computertisch führen Bildschirmschoner-Spiralen eine Art Synchrontanz auf. Zwischen dem Regal für
Hörbücher und zwei schäbigen Ohrensesseln tropft Heizungswasser
aus der Decke in einen großen 25-Liter-Eimer.
Plitsch. Platsch. Plitsch.
Die Kinder verteilen überall Schnee und stürmen gleich nach oben in den Kinderbuchbereich. Zeno und Sharif sehen sich lächelnd an, als sie hören, wie ihre Schritte am oberen Ende der Treppe innehalten.
«Boa», sagt die Stimme von Olivia Ott.
«Heiliger Bimbam», die von Christopher Dee.
Sharif fasst Zeno beim Ellbogen und hilft ihm die Stufen hinauf. Der Eingang zum ersten Stock liegt hinter einer golden besprühten Sperrholzwand versteckt, und Zeno hat über die oben mit einem Bogen versehene Tür in der Mitte folgende Worte geschrieben:

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