„Denn über dieser finster-atavistischen Unterwelt erhebt sich ein jeder Realität enthobener, lichter, sakraler Überbau supranationaler Selbsterfindungen, in denen ein Fantasy-Russland als unzerstörbarer Kern einer einzigartigen eurasischen Weltzivilisation virtuell entworfen wird: ein ‚Fünftes Imperium‘“.
Solche Sätze wie dieser - aus dem Aufmacher der FAZ zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine - kennzeichnen den ganz eigenen Sound der Texte von Gerd Koenen, in denen tiefenscharfe Analysen mit hochverdichteten Sprachbildern zu einer Prosa von erregender intellektueller Intensität verschmelzen. Der einstige Aktivist eines kommunistischen Bundes hat wie wohl kein anderer Leben und Nachleben, Metamorphosen und Mutationen des Kommunismus erforscht, reflektiert und dargestellt. Daraus ist ein Werk hervorgegangen, das mit der grandiosen Trilogie über das „rote Jahrzehnt“ der Bundesrepublik, dem neu aufgelegten „Russland-Komplex“ und dem Opus magnum „Die Farbe Rot“ zu den interessantesten gehört, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland entstanden sind. Dass Koenen als Schriftsteller, Historiker und Intellektueller auf eigene Faust unterwegs ist, nicht als besoldeter Professor, gibt seinen Büchern eine geistige Unabhängigkeit, die zu ihren besonderen Stärken gehört. In diesen Tagen erscheint „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“, eine Bilanz der Auseinandersetzung Gerd Koenens mit dem postkommunistischen Russland und Putins Fieberträumen von einem neuen russischen Imperium.  

1. Womit haben Sie Ihr erstes Geld verdient?
Mit meinen bloßen Händen und einer Schaufel in der Kokerei von „Graf Bismarck“ in Gelsenkirchen, um im Sommer 1967 in einem Arbeitscamp in den französischen Alpen Urlaub zu machen.


2. Ein unvergesslicher Ort, an dem Sie waren?
Nur einer?! Paris an Ostern 1964, der Jardin des Tuileries im Frühnebel: eine Epiphanie für mich als Kind des Ruhrgebiets. Dann New York, 1978, 42nd Street und Public Library, die Straßenschluchten und ein Paper Moon darüber, ich in seltsamer „berufsrevolutionärer“ Mission. Und dann wieder Petersburg, im Juni 1995, in der letzten der weißen Nächte vor der Abfahrt, nach einer durchzechten und durchgesungenen Nacht bei meinem Gastgeber Igor Michailitsch und seinem Bulgakow’schen Kater, mit unserem kleinen Russisch-Kurs. Und dann noch ... – aber das führt jetzt zu weit.


3. Was haben Sie immer dabei?
Möglichst meine Geldbörse mit den Ausweisen – falls ich sie nicht gerade wieder mal vergessen habe einzustecken. Und etwas zu lesen.


4. Was ertragen Sie nur mit Humor?
Mich selbst, und das Leben im Allgemeinen. Aber Gott sei Dank bin ich humorvoll.


5. Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?
Grimmiger Humor – mit einer Prise Fatalismus als probatem Mittel gegen alle Anflüge von Kulturpessimismus oder blanker Verzweiflung „im Widerschein des Krieges“.


6. Wie sieht ein gelungener Tag in Ihrem Leben aus?
Das ist eher selten – aber dann gibt es diese langen Sommertage, an denen ich ganz früh schon auf bin und im ersten Licht die Gedanken strömen und ich vor dem Frühstück bereits etwas auf dem Papier habe, und mich auch danach von den hereinkommenden Mails und News nicht ablenken lasse, sondern den Spannungsbogen bis in den Nachmittag hinein halte, bevor ich endlich ein paar Schritte rausgehe, einkaufe und für uns koche, bevor H. von der Arbeit kommt, und wir alle Eindrücke und News des Tages durchsprechen. Das war dann ein gelungener Tag in meinem auslaufenden Leben.


7. Was nehmen Sie sich immer wieder vor?
Genau das: in der Frühe aufstehen, zügig etwas aufs Papier bringen, mich nicht von Mails und Sonstigem ablenken und verzetteln lassen. Wenigsten einmal vor die Welle meiner Termine und Aufgaben kommen, statt ihnen hinterher zu hecheln. Jeden Tag deutlich länger nach draußen gehen als ich es tue (Bewegung!). Dafür weniger trinken! Mehr aus dem Haus gehen und mehr von der Welt noch sehen! Kurzum, alles was ich hartnäckig nicht tue.


8. Was haben Sie im Studium fürs Leben gelernt?
Eigentlich erst das Lesen. Ein ausschweifendes, zielloses Lesen, aber schon nicht mehr so somnambul wie auf dem Gymnasium, sondern zielgerichteter, konzentrierter, um sich Themenfelder zu erschließen, Theoriesysteme zu erkunden, größere Zusammenhänge herzustellen. Dass ich das „im Studium“ gelernt hätte, ist aber nur teilweise wahr. Die faustisch-fanatische Lesebewegung im Milieu der deutschen Post-68er-Bewegung dürfte mich eher noch stärker geprägt haben. Selbst wo diese Lektüren auf eine ideologische Selbsteinschnürung hinausliefen, lieferten sie auch intellektuelle Techniken und Handhaben, um aus dieser Houdini-Situation wieder herauszukommen, wenn auch erst nach einem langen „Roten Jahrzehnt“. Eine zugegeben verquere Art des Lernens, aber trotzdem lehrreich.


9. Gibt es eine:n Denker:in, der:die Sie begleitet?
Uff, „ein:en Denker:in“ kann ich mir nicht einmal denken, schon rein sprachlich nicht! Sollte mit diesem Zwitterwesen eine Frau gemeint sein, wäre es am ehesten wohl Hannah Arendt, vor allem auch wegen ihrer intellektuellen Kühnheit, die sich sogar bis zu einer Art Recht auf Diskriminierung im Privaten versteigen konnte. Arendts schneidende Philippika gegen die heutige amtliche Neutralisierung mit Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich möchte ich mir lieber gar nicht vorstellen – würde ich allerdings gerne lesen.
Ansonsten war es Marx, der übrigens in der Liebesbeziehung und historisch „aufzuhebenden“, aber primär natürlichen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau (als zwei spannungsvollen Individualitäten) den ersten Vorschein dessen sah, was er als „Kommunismus“ bezeichnete. Da man in der Regel nur eine wirklich große Leseerfahrung im Leben hat, waren es für mich tatsächlich die 40+ blauen Marx-Engels-Bände, die ich (believe it or not) einen trunkenen französischen Sommer lang von vorne bis hinten durchgelesen und exzerpiert habe. Der viel später erst in meinen Lektürehorizont eingetretene Max Weber mit seinen freien Wortschöpfungen und verzwickten Gedankenhelixen oder Robert Musil mit seinen wunderbar verwickelten Welteindrücken sind an diese Tiefenprägung nicht mehr herangekommen – wie ich allerdings erst festgestellt habe, als ich meine mehrfarbig angestrichenen Marx-Bände vierzig Jahre später für die „Farbe Rot“ noch einmal aus dem Regal und wieder durchgenommen habe.


10. Ein großes „Beinahe“ in Ihrem Leben?
Nur eins?! Davon gibt es mindestens ein Dutzend. All the roads not taken – die dich vielleicht auf ganz andere Lebenspfade geführt hättest! Aber wie sagte Kafka: „Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“


11. Welcher Illusion geben Sie sich gerne hin?
Dass ich eigentlich ganz anders bin, nur so selten dazu komme. (Noch so ein geklautes Bonmot; klingt nach Ödon von Horvath, aber dafür verbürge ich mich nicht.)


12. Welche Zeitungen, Magazine und Blogs lesen Sie?
Viel zu viele, seit dem Krieg gegen die Ukraine noch viel mehr: Die Frühstücks-FAZ on paper, danach vier bis fünf deutsche Blätter online, plus der New York Times, immer quer durch. Wöchentlich den „Spiegel“ und die „Zeit“, auch online. Und jetzt auch noch die russischen Exil-Zeitschriften und die ukrainischen Blätter mit ihren laufenden Meldungen und Analysen, meist auch in gutem Englisch verfügbar. Dann zur geistig-ästhetischen Entspannung den „New York Review of Books“. Von den überbordenden „Osteuropa“-Bänden oder den neuesten „Blättern“, die sich türmen, und von allem andern noch ganz abgesehen. Und übrigens, Bücher lese ich auch.
Wie kann irgendeine Person (generisches Femininum!) das alles lesen und verarbeiten! Und wie sich dann auch noch durch die einströmenden „Postings“ oder „Blogs“ oder „Tweets“ durchgrasen und zurückzwitschern. Alle reden und niemand hört zu. Babylonisch! Ohne mich. Wenn schon, mag ichs eher alexandrinisch: also ein uferlos sich verzweigendes Archiv papierner und abgehefteter oder aber elektronisch abgelegter Texte, die ich in diesem Leben vermutlich nicht mehr lesen und vielleicht auch gar nicht mehr finden werde. So hätten die alten Ägypter sich vielleicht für das Nachleben gerüstet, wenn sie schon den Buchdruck und das Internet gekannt hätten – damit sie drüben auch was zu Lesen haben.


13. Wenn Sie ein zweites Leben führen könnten, wie sähe dieses aus?
Das ist zu persönlich. Darüber denke ich lieber nicht nach.

 

14. Ihr Lieblingsmuseum?
Das Liebighaus in Frankfurt. Na gut, noch der Louvre, die ägyptische oder mesopotomatische Abteilung, so lange es sie noch gibt.


15. Welche Bücher stehen gerade ganz weit oben auf Ihrer Leseliste?
Allein diese Frage treibt mir den Schweiß auf die Stirn, weil die ungelesenen, die sich auf dem Schreibtisch oder Nachttisch türmen, mich schon vorwurfsvoll anschauen.


16. Welches Ihrer eigenen Bücher gefällt Ihnen am besten?
Wollen Sie das wirklich wissen? Und wenn es sogar mehrere sind? Und nicht bei Beck erschienen sind, sondern einer früheren Werkphase angehören? Also schön, am besten gefällt mir meine deutsche Trilogie: „Das Rote Jahrzehnt“, die „Urszenen“ und die „Traumpfade“. Die schrieb ich am leichtesten, weil sie am erzählerischsten waren. Und dabei hätte ich vielleicht bleiben sollen.


17. Welches Buch möchten Sie gern noch schreiben?
Das, was ich gerade wieder aufgenommen habe, aber was noch ungenannt bleiben muss. Alles, was darüber hinausführt, hieße das Schicksal herausfordern.